Sechs Bausteine für ein digital souveränes Europa

Der Großteil der hierzulande genutzten digitalen Infrastrukturen, Plattformen, Anwendungen und Dienste stammt von Unternehmen, die ihren Sitz in den USA haben. Doch wie kann sich Europa aus dieser Abhängigkeit befreien? VNC, führender Entwickler von Open-Source-basierten Unternehmensanwendungen, nennt die Grundvoraussetzungen für digitale Souveränität.

Die Digitalisierung bietet enorme wirtschaftliche und gesellschaftliche Chancen, allerdings ist Europa dabei in vielerlei Hinsicht von den USA abhängig. Die dortigen Digitalkonzerne haben schon lange eine Marktmacht erreicht, mit der sie die Entwicklung in ihrem Sinne vorantreiben und die Rahmenbedingungen diktieren können. Europäische Unternehmen kommen dagegen kaum an und die europäischen Staaten tun sich schwer, ihre Regeln und Werte durchzusetzen – von Datenschutz bis Interoperabilität. Damit Europa digital souverän wird und selbstbestimmt über die Gestaltung und Nutzung von Systemen und Anwendungen sowie die Verwendung der generierten Daten entscheiden kann, müssen nach Einschätzung von VNC einige entscheidende Veränderungen angestoßen werden:

  1. Sichere europäische Infrastruktur: Europa benötigt leistungsstarke, hochverfügbare und sichere Rechenzentren, um sich aus der amerikanischen Abhängigkeit zu lösen. Ideal wäre eine Initiative für „Beton und Blech“, die den Bau neuer Datacenter vorantreibt oder bestehende entsprechend europäischer Standards zertifiziert. Diese Infrastruktur ist dann auch die Basis für eine europäische Cloud-Plattform, denn ohne Cloud wird es künftig nicht mehr gehen. Zwar erfordert der Aufbau von Rechenzentren große Investitionen, gleichzeitig ist er aber der technisch am wenigsten anspruchsvolle Schritt auf dem Weg zu digitaler Souveränität.
  2. Eine Cloud-Plattform auf Open-Source-Basis: Der nächste Schritt muss eine Cloud-Plattform auf Open-Source-Basis sein, um den Hyperscalern eine Alternative entgegenzusetzen. Die Technologien dafür existieren bereits, zum Beispiel Kubernetes auf Betriebssystemen wie Red Hat oder Ubuntu. Damit könnte Europa eine gleichwertige, wenn nicht sogar überlegene Cloud entwickeln, die nach europäischen Standards geschützt und zertifiziert ist und den Aufbau hybrider Cloud-Umgebungen erleichtert. 
  3. Ein Ökosystem aus quelloffenen Anwendungen: Europa braucht moderne Anwendungen oder besser: Anwendungssuites, die dank Open Source ein hohes Sicherheits- und Datenschutzniveau bieten und einfache Integrationen erlauben. Da an der Cloud kein Weg mehr vorbeiführt, muss eigentlich jede Anwendung per se Cloud-enabled sein und ohne Plug-ins auf verschiedenen Endgeräten im Browser laufen. Zu diesem Software-Ökosystem gehören natürlich auch Plattformtechnologien wie Cloud-Datenbanken und Cloud-Storage. Perfekt wäre, wenn sich die SaaS-Anwendungen auf Wunsch auch in einer geschützten Instanz für ein einzelnes Unternehmen betreiben lassen – quasi als dedicated SaaS.
  4. Anreize für Investitionen und Sponsorings: Um neue Rechenzentren aufzubauen, Cloud-Plattformen zu entwickeln und ein umfangreiches Software-Ökosystem zu schaffen, sind umfangreiche Investitionen notwendig. Neben Förderprogrammen liefern hier vor allem Steuererleichterungen und bessere Abschreibungsmöglichkeiten einen Anreiz für Investitionen. Daneben können Sponsorings vielen jungen Unternehmen helfen, beispielsweise indem Rechenzentrumsbetreiber gegen eine Beteiligung Infrastruktur zur Verfügung stellen. 
  5. Attraktive Arbeitsplätze: Europa benötigt hochattraktive IT-Arbeitsplätze, um den Brain Drain – das Abwandern der zweifellos vorhandenen Experten – zu verhindern und noch mehr junge Menschen für IT-Berufe zu begeistern. Interessante Aufgaben rund um Software-Entwicklung und DevOps, Datacenter- und Infrastrukturmanagement, Consulting und IT-Projektmanagement gibt es reichlich, doch Unternehmen müssen sich auch von antiquierten Führungsstilen verabschieden, agile Arbeitsweisen unterstützen und sich flexibler zeigen, etwa beim Homeoffice. Hier hat sich in den vergangenen Monaten einiges getan, wenn auch nicht immer ganz freiwillig.
  6. Chancengleichheit: Digitale Souveränität kann Europa nur erreichen, wenn die Bevorzugung von Closed Source endet und Chancengleichheit für Open Source hergestellt wird. Aktuell werden Großaufträge teilweise ohne Ausschreibung an die Big Player der Software-Branche vergeben, was zu Pseudo-Standards führt, die sich durch große Marktmacht etablieren und die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern immer weiter vergrößern. Europa braucht transparente Auftragsvergaben mit einem freien Kommunikationsfluss statt Absprachen hinter verschlossenen Türen. Und warum können Behörden nicht als Vorbild dienen und generell auf europäische oder Open-Source-Lösungen setzen? Es gibt so viele innovative europäische Anbieter, die häufig ignoriert werden – übrigens auch bei der Förderung, die sich zumeist auf die Platzhirsche konzentriert und viel stärker technologie-agnostisch mit klaren Zielvorgaben erfolgen sollte.

„Aktuell wird die digitale Welt von großen amerikanischen Konzernen dominiert, deren Marktmacht trotz der europäischen Bestrebungen nach digitaler Souveränität ungebrochen ist und eher noch zunimmt – mit jeder Suche, jedem Kauf und jedem Like“, erklärt Andrea Wörrlein, Geschäftsführerin von VNC in Berlin und Verwaltungsrätin der VNC AG in Zug. „Das ändert sich nur, wenn Europa eigene sichere und vertrauenswürdige Infrastrukturen und Plattformen mit einem hohen Anteil von europäischer Technologie und Software aufbaut. Dafür müssen aber die Rahmenbedingungen stimmen und innovative, nicht kompromittierte Lösungen auf Open-Source-Basis gestärkt werden – und vielleicht sollte man sich auch nicht bei jeder Initiative gleich die US-Digitalkonzerne ins Boot holen, von denen man sich eigentlich unabhängiger machen will.“

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