Customer Energy: Das Zeitalter der aufgeklärten Kunden

Zunächst unterschätzt als „nur“ ein weiterer elektronischer Kommunikationskanal, hat das Internet einen Emanzipationsprozess ausgelöst, der Kunden zu mehr Mündigkeit verholfen hat: Das „Mitmachnetz“ stellt die bisherigen Sender-Empfänger- und Käufer-Verkäufer-Modelle auf revolutionäre Art und Weise auf den Kopf. Was relevant ist, bestimmen die Nutzer.

An die Stelle von Marktstatistiken und Zahlen sind Menschen und Beziehungen getreten. Absatzmärkte werden von Communities abgelöst, die durch und durch authentisch sind, weil sie sich selber geschaffen haben. Ausgestattet mit der Macht des Internet, hat der „aufgeklärte Kunde“ seine klassische Position am Ende der Wertschöpfungskette längst verlassen und setzt seine persönliche Energie und vor allem das Internet für die Auswahl und Zusammenstellung von Produkten ein, um für sich einen optimalen persönlichen Nutzen zu erzielen – Customer Energy entfaltet sich. Um diese für sich nutzen zu können, müssen Unternehmen jedoch bereit sein, den universellen Kontrollanspruch für alle Bereiche der unternehmerischen Wertschöpfung aufzugeben und zum Teil in die Hände der Kunden zu legen.

Im 20. Jahrhundert war der Kunde, der eigene Energie in den Wertschöpfungsprozess einbrachte, vergleichsweise einfach zu verstehen: Er verzichtete auf den Service des Tankwarts, um von günstigeren Benzinpreisen profitieren zu können, und er baute seine Möbel selbst zusammen, um sie günstiger kaufen zu können. Für die Einbringung von Kundenenergie erwartete er monetären Gegenwert – die Produkte hatten günstiger zu sein als bei den Wettbewerbern mit Service-Angebot. Unternehmen, die sich früh genug auf diese Entwicklungen einstellen konnten, profitierten von einer Win-Win-Situation, indem sie den Kunden in die letzten Schritte der Wertschöpfung einbanden. Die grundsätzliche Wertschöpfung und die Schritte der Wertschöpfungskette haben sich durch diese Entwicklung nicht verändert, sondern nur die handelnden Personen auf der letzten Stufe. Indem der Kunde bestimmte Serviceleistungen der Wertschöpfungskette selbst übernimmt, beteiligt er sich an der Wertschöpfung des Produktes.

Das Internet macht’s möglich

Die Idee, die sich hinter „Web 2.0“ verbirgt, ist weitaus mehr als nur Hilfe zur Selbsthilfe für die User oder ein willkommener neuer und moderner eMarketing- oder Verkaufskanal für die Unternehmen. Waren die ersten Geschäftsmodelle im Internet noch davon geprägt, durch Abwicklung von Transaktionen über das Internet die Wertschöpfungsstufen anderer Marktteilnehmer überflüssig zu machen – nach „Video kills the Radio star“ hieß nun die Losung „eCommerce kills the Retail champion“ -, so kamen, um es einmal in der Terminologie der Klassenkampftheorie auszudrücken, alsbald die Konsumenten im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung in den Besitz der Produktionsmittel der „herrschenden Klassen“: Informationen recherchieren, Produkte vergleichen, Gleichgesinnte finden, Botschaften (multimedial) produzieren, Meinungen austauschen und schließlich Informationen senden – all das wird nun dank Internet-Flatrate und Preisverfall bei Computer- und Unterhaltungselektronik-Hardware möglich für jedermann (aus der digitalen Generation). Angeregt durch die neuen Möglichkeiten des Web 2.0 entwickelt sich so derzeit eine neue, nachhaltige Customer Energy: Über das Internet organisieren sich Communities, die für den in der Gruppe definierten Konsumbedarf oft billigere Einkaufsmöglichkeiten entdecken; sie verfügen über neue, einfach zugängliche und umfassende Informationsquellen, die früher für sie verschlossen waren, und sie erschüttern bereits einzelne Industrien durch ihre neuen Konsumgewohnheiten in ihren Grundfesten.

Eigene Interessen – eigener Antrieb

Dabei setzen Kunden ihre Energie vorwiegend aus eigenem Antrieb und für eigene Interessen ein – und das nicht immer zum Vorteil der Unternehmen. Leidvoll erfahren musste dies bereits die Musikindustrie. Illegale Tauschbörsen geben den Verbrauchern die Möglichkeit, ihre Energie dazu einzusetzen, kostenlos an Musik zu gelangen – auf Kosten der Musikindustrie, die so um ihre Erträge gebracht wird. Nachrichten, die kostenlos im Internet publiziert werden, machen klassische Zeitungsprodukte zunehmend unattraktiv – und bedrohen das Geschäft der Verlage. Der neue machtvolle Kunde verfügt über eine beinahe unlimitierte „Buying Power“, die sich weniger in unbegrenzter Liquidität als vielmehr in beinahe unbegrenzter Mitwirkung an der Entstehung oder Konfigurierung eines Produkts ausdrückt. Unternehmen stehen damit vor einer enormen Herausforderung: Sie müssen lernen, die Kraft des Egoismus eines jeden einzelnen Kunden für sich zu nutzen.

Raus aus der Komfortzone und Reinversetzen in den Kunden

Wie Unternehmen auf die veränderte Rolle des Kunden reagieren können, um eine Basis für zukünftiges Wachstum zu schaffen, zeigten zunächst einige explosionsartig wachsende Online-Player auf: Die MP3-Tauschbörse Napster zählte zu Spitzenzeiten rund 38 Millionen registrierte Nutzer. Revolutionär war dabei der neue Peer-to-Peer-Ansatz (P2P), der Suche und direkten Tausch von MP3-Dateien zwischen zwei User-Clients managt. Seither gibt es zahlreiche Versuche, den Ansatz des File-Sharing zwischen den Usern und die dezentrale Datenhaltung auf ihren PCs in kommerzielle Geschäftsmodelle zu überführen – mit allerdings noch eher mäßigem Erfolg. Skype bedient den Wunsch der Kunden nach einfacher, kostengünstiger VoIP-Telefonie und zählt bereits über 100 Millionen registrierte User. Diese sind gerne bereit, für eine entsprechende Kostenersparnis die notwendige Applikation auf Computer oder Pocket PC zu installieren. Das Unternehmen Fon, das einen flächendeckenden mobilen Internet-Zugang durch die gemeinsame Nutzung privater WLAN-Hotspots schaffen will, zählt nach Start im Februar 2006 bereits über 100.000 Mitglieder weltweit. Fon setzt dabei das Internet als Plattform ein, um Usern mit gleichen Interessen die Möglichkeit zu geben, sich in einer Community zusammenzuschließen und sich gegenseitig durch die gemeinsame Nutzung von Hotspots zu unterstützen, um so Kosten einzusparen.
OhMyNews, Current.TV, MySpace, YouTube, jajah.com: Die Liste erfolgreicher Beispiele, wie durch Ausnutzung der Customer Energy ganz neue Marktteilnehmer entstehen, ließe sich beliebig fortsetzen. Allen sind jedoch zwei Elemente gemein: Sie entstammen zum einen eher Start-up-Umfeldern denn der Corporate Culture großer Unternehmen und speisen ihren Nutzerzulauf zumindest teilweise aus einer „sanften Anarchie“ gegen die Großen der jeweiligen Branche. Zum anderen sind sie den Beweis eines nachhaltig profitablen Geschäftsmodells – vermutlich gerade deshalb – bisher noch schuldig geblieben.

Durchschnittsumsätze pro User von Community-basierten Geschäftsmodellen

Bislang erlaubten die weitgehend geschlossenen Wertschöpfungsketten auch für Unternehmen in Industrien mit hoher Wettbewerbsdynamik, aber außerhalb der digitalen Welt, eine relativ bequeme Komfortzone. Diese Komfortzone wird nicht dauerhaft erhalten werden können, denn keine Branche wird langfristig von der Digitalisierung unverschont bleiben. Selbst für Güter des täglichen Bedarfs wie z.B. Margarine ist vorstellbar, dass ihr Absatzerfolg dereinst stärker von der vielfältigen Meinungsäußerung und individuellen Meinungsbildung im Internet denn von der klassischen TV-Werbung abhängig ist. Es wird für Unternehmen daher immer wichtiger, intensiv auf die Kundenbedürfnisse einzugehen und ihre Energie zu nutzen. Dazu ist vor allem auch ein Verständnis für nicht befriedigte Bedürfnisse rationaler, monetärer oder auch emotionaler Art von elementarer Bedeutung. Um dieses Verständnis jedoch erlangen zu können, ist es zunächst einmal notwendig, den Kunden in seiner neuen, veränderten Rolle zu akzeptieren. Starre Segmentierung nach Demographie oder Lebensstilen helfen da nicht weiter.

Typologie der Konsumgewohnheiten

Ausprägung der Kundenenergie

An der Wertschöpfung eines physischen Gutes kann ein Kunde sicherlich nur in begrenztem Maße teilnehmen – Konzeption, Produktion, Herstellung und Montage sind – je komplexer das Produkt, desto klarer – auf der Herstellerseite verortet und liegen, abgesehen von den Möglichkeiten der Mass Customization, außerhalb der Reichweite des Kunden. Bei digitalen Produkten hingegen kann der Kunde sehr viel höheren Einfluss nehmen: Durch die Zusammenstellung eigener, wirklich individualisierter Produkte über das Internet ist er massiv am Wertschöpfungsprozess beteiligt. Diese Beteiligung geht deutlich über die Randbereiche hinaus, in denen Kunden früher aktiv waren. Je höher der Grad der Digitalisierung der Wertschöpfungsprozesse ist, umso stärker kann der Einfluss des Kunden auf die einzelnen Stufen werden. Das Internet übernimmt eine wesentliche Rolle, indem es die Beeinflussung digitalisierter Produkte über große Entfernungen ermöglicht. Doch spielen Wertschöpfungspartnerschaften auch außerhalb der Internet-Welt eine immer wichtigere Rolle. Beispiele dafür sind die Konfektionierung von Kleidungsstücken durch Body-Scanning oder das Selbstdrucken von Fotos an Druckstationen im Fotofachhandel.

Unbegrenzte Kaufkraft

Der Einfluss von Customer Energy auf ein Produkt lässt sich anhand von vier Merkmalen bestimmen: Wie viel Wissen oder physische Kraft wendet der Kunde auf? Wie viel Zeit setzt er ein? Welchen Wirkungsgrad erzielt er? Und wo liegen seine Interessen? Je stärker der Einfluss des Kunden in einem bestimmten Bereich, umso direkter ist der Einfluss der Kundenenergie auf ein Produkt. Wenn ein Kunde vor dem Kauf eines Computers das Gerät über ein Portal im Internet selbst konfiguriert, nimmt er einen stärkeren Einfluss auf das Produkt, als wenn er nur aus einem vorgegebenen, von ihm nicht zu beeinflussenden Sortiment auswählt.
Der postmoderne Konsument bewegt sich engagiert und ausdauernd in markenspezifischen Welten, die sich über Plattformen im Internet erschließen. Diese Plattformen eignen sich hervorragend dazu, die Interessen der Kunden zu bedienen und übertreffen in dieser Hinsicht frühere Medien deutlich.

Ausgewählte Community-Plattformen

Die Energie des Kunden nutzen

Unternehmen müssen auf die veränderte Rolle des Kunden reagieren, um eine Basis für zukünftiges Wachstum zu erhalten. Gerade im Endkundengeschäft entwickeln Paradigmenwechsel, die üblicherweise auf Randerscheinungen basieren und von etablierten Playern regelmäßig vernachlässigt werden, eine erstaunliche Schlagkraft. In der Vergangenheit erschien Customer Energy vor allem als ein bedrohlicher Faktor, der nicht kontrolliert werden konnte und den man – aus der Perspektive der Unternehmen – im besten Fall eindämmen sollte. Statt dem proaktiven Umgang mit Kundenenergie beherrschten Schutzmechanismen und Protektorate die Maßnahmenpläne – der massive Anstieg von Urheberrechtsklagen führt vor allem zu Wachstum in der Anwaltsbranche. Der neue, weitaus umfangreichere Einfluss der Kundenenergie macht diese Vorgehensweise sogar gefährlich und erfordert eine Umstellung der (noch) vorherrschenden Strategien, die Kunden lediglich als „Endabnehmer“ von Produkten begreifen. Bestand das Internet Ende 1995 noch aus rund 20.000 Websites, so wurde 2006 die Schallmauer von 100 Millionen Websites durchbrochen – allesamt Plätze, die von Usern bevölkert und immer häufiger selbst erstellt werden. Plätze mithin, auf denen die Internet-Nutzer Spuren hinterlassen, die zur Nutzbarmachung der Customer Energy gesammelt und ausgewertet werden können – nicht nur von Unternehmen der digitalen Wirtschaft!

Six golden Rules

1. Become aware!
Das Phänomen Customer Energy sollte keinesfalls als Randerscheinung abgetan werden. Kunden in ihrer neuen Rollenvielfalt zwischen Konsument, Lieferant und Wettbewerber akzeptieren und das eigene Geschäftsmodell für diese Art der Interaktion öffnen.

2. Accept!
Akzeptieren der neuen Kundenmacht und Forcieren einer Win-Win-Situation. Die größten Geschäftschancen und -risiken liegen im vorhandenen Kundenbestand – wo sich Customer Energy entfaltet -, während neue Märkte und Wettbewerber meist überbewertet werden.

3. Drive!
Traditionelle Managementansätze reichen meist nicht aus, um diese Veränderungen proaktiv nutzen zu können. Dazu muss eine Perspektive auf Augenhöhe der Kunden eingenommen werden, die dazu neigen, sich in Communities – und nicht in Segmenten – zu organisieren, also müssen die Communities in die Strategie eines Unternehmens integriert werden.

4. Excite!
Verstehen und Nutzen der Kundenmotivation. Unternehmen, die Customer Energy schon heute erfolgreich für sich nutzen, haben dieses Ziel nicht durch den Ausbau von Nischen, sondern durch eine vollständige Umstrukturierung der Wertschöpfungskette erreicht.

5. Involve!
Neuausrichtung der Wertschöpfungskette schließt ein Hinterfragen der Beziehungen zu Lieferanten und Kunden mit ein. Oft eignen sich strategische Allianzen, um eine erhöhte Flexibilität in einzelnen Wertschöpfungsstufen zu erreichen, da die Partner eine größere Affinität zu den speziellen Kundenanforderungen einer Stufe aufweisen. Die Schnittstellen jeder Kooperation müssen der Dynamik einzelner Wertschöpfungsstufen angepasst werden.

6. Let go!
Auf Interaktion einlassen und nicht auf den universellen Kontrollanspruch für alle Bereiche der unternehmerischen Wertschöpfung bestehen. Wenn Kunden ihre Energie in ein Produkt einbringen wollen, kann es auch dann vorteilhaft sein, diese Energie in den Wertschöpfungsprozess zu integrieren, wenn sie nicht der Kontrolle des Unternehmens unterliegt. Auf diese Weise wird zwar keine vollständige Kontrolle über die Kundenenergie ermöglicht. Es bietet sich jedoch zumindest die Chance, Customer Energy als attraktiven Wachstumshebel produktiv zu nutzen, anstatt sie als negative Energie bekämpfen zu müssen.

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